Anne Rinn
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Januar 2003

Mikrokosmos Zeitschrift für Mikroskopie 91, Heft 1 , 2002
Januar 2002

Text auf www.kx-Kampnagel.de (Galerie KX-Kampnagel Hamburg)

Adlershof Magazin (Heft 1, Seite 24 - 28)
November 2000

Kunstverein Zehntscheuer

Galerie Acud, Berlin
Berliner Morgenpost vom Sonntag
31. August 1997
Berliner Tagesspiegel (S. 24)
26. August 1997

ROTATORIEN ZWISCHEN KUNST UND WISSENSCHAFT

Erschienen: Januar 2002
Medium: Mikrokosmos Zeitschrift für Mikroskopie 91, Heft 1 , 2002
Autor: Mikrokosmos Zeitschrift für Mikroskopie 91, Heft 1 , 2002

Kunst und Wissenschaft - was wissen sie heute noch voneinander? Die immer intensivere Spezialisierung erschwert bereits die Kommunikation zwischen Vertretern verschiedener Fachrichtungen ein und derselben Einzelwissenschaft. In der Welt der Bildenden Kunst wuchert ein Dschungel aus Diskursen, Trends und Richtungen, der auch den Austausch zwischen Künstlern zu einer heiklen Angelegenheit werden läßt. Vollends verloren gegangen scheint der Typus des Renaissance-Menschen zu sein, der zugleich Künstler und Wissenschaftler ist. Man muß heutzutage an ihn erinnern wie an eine ausgestorbene Dinosaurierart. Doch, diese Fabelwesen gab es tatsächlich. Gestalten wie Leonardo da Vinci, Michelangelo und Goethe waren unter ihnen. Wie soll also noch ein Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft zustande kommen? Ist er überhaupt möglich und, falls ja, erwünscht?

Die Biologin Silvia Mohr und die Installations- und Videokünstlerin Anne Rinn haben den Dialog gesucht - und gefunden. Nach ihren gemeinsamen Erfahrungen können sie beide Fragen bejahen. Im Rahmen des Kunstprojektes ?Phasen?, initiiert von der Initiativgemeinschaft Außeruniversitärer Forschungseinrichtungen in Adlershof e.V.
(IGAFA), das mithelfen soll, die durchaus künstliche Barriere zwischen Kunst und Wissenschaft zu durchbrechen, kam es zu einer gemeinsamen Zusammenarbeit. Silvia Mohr schrieb ihre Doktorarbeit am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin-Müggelsee über die Nahrungsbeziehungen zwischen Rädertierchen (Rotatorien) und Protozoen. Anne Rinn, die bereits in früheren Arbeiten ein Faible für Motive aus der Biologie gezeigt hat, griff die Thematik überraschend assoziationsreich auf. Ihre Endlos-Filmschleifen ?Rotatoria I-IV? spüren den Gemeinsamkeiten des Lebens in Mikro- und Makrokosmos nach, variieren das Prinzip der Rotation und hinterfragen den scheinbaren Widerspruch zwischen Linearität und Zyklus. Es sind vier Dialoge zwischen Kreis und rechtem Winkel.

Schon die erste Schleife zeigt einen Menschen, der sich mühselig in einer engen weißen Kiste um sich selbst dreht, erst langsam, dann mit zunehmender, schließlich rasender Geschwindigkeit (Abb. 1). Die weiße Kiste ist hell und auf trostlose Weise sauber, gereinigt von allem Unerwünschten, doch ein gemütlicher Ort für einen längeren Aufenthalt ist sie sicher nicht. Sie ist ein überaus künstlicher Lebensraum, Schutzraum und Gefängnis zugleich, und mag auch für einen modernen, urbanen Lebensstil stehen, der die Subjekte in selbstgewählter Isolation erstarren läßt. Die rasende Rotation und der für sie notwendige enorme Energieaufwand lassen an einen Wutanfall, einen verzweifelten Befreiungsversuch denken, doch die starre Geometrie des rechten Winkels erweist sich als stärker, läßt nur eine Kreisbewegung zu, die das Individuum noch tiefer in die solipsistische Isolation treibt.

Im zweiten Film probt gleich eine ganze Gruppe von Subjekten in der Enge einer Kistenwelt den Aufstand (Abb. 2). Sie stellen sich langsam auf den Kopf, abgepolstert mit weichen Kissen, und drücken mit ihren Füßen zaghaft den Deckel hoch. Sie müssen das schon unzählige Male getan haben, ihre Bewegungen sind absolut synchron und von größter Sorgfalt. Die Gruppe erhascht einen kurzen Blick auf die ersehnte, aber auch gefürchtete Freiheit der Außenwelt. Dann, als überkäme sie Angst vor der eigenen Courage, lassen sie den Deckel wieder sinken und stellen sich zurück auf die Füße, bis der Vorgang von Neuem beginnt. Der Ausbruchsversuch hat sich als bloße Manier entpuppt, als ein mit selbstverliebter Präzision ausgeführtes Ritual, das sich sinnentleert im folgenlosen Vollzug erschöpft. Ein bloßes Spiel, und ironischerweise der einzige Zeitvertreib, der in der Enge der Kiste noch möglich scheint.
Im dritten Film (Abb. 3 und Abb. 4) sehen wir erneut der Gruppe bei ihrer mutlosen Zeremonie zu, diesmal in der Zeichentrick-Variante. Doch das frivole Spiel der selbstzufrieden Eingesperrten bleibt nicht länger folgenlos. Als der Deckel wieder einmal geöffnet wird, geschieht das Unerwartete. Die Figuren werden herausgesaugt aus der Genormtheit der Kiste, hinein in das gefürchtete Chaos der Außenwelt, welche von Rotatorien bevölkert wird, die im Vergleich zu den Menschen riesenhaft wirken. Real- und Trickaufnahmen gehen eine Synthese ein. Die Kistenbewohner haben ihre Angst vor der Freiheit abgelegt und tummeln sich wie Kunstschwimmer zwischen den Rotatorien, bis eine von ihnen die ganze Gruppe lebend verschlingt. Die Figuren werden von ihr bald wieder freigegeben, eingehüllt in einen formlosen Kokon, der sich rasch in jene Kiste verwandelt, aus der die Gruppe befreit wurde. Der angstbesetzte Gegensatz ?Innen - Außen? ist endlich, wie bei einem Möbiusband, aufgehoben; das Eine existiert im Anderen, der Ausgang führt hinein, der Übergang ist unmerklich und fließend.
Der vierte und letzte Film (Abb. 5) bringt das Spiel mit den Gegensätzen zu einem überraschenden Abschluß. Er bietet auf den ersten Blick lediglich ein Bild der Nahrungskette, linear und progressiv, in kleinen Zwischenschritten aufsteigend vom Kleinsten zum immer Größeren, darwinistisch und ohne Aufmerksamkeit für das Zyklische, das alle Lebensvorgänge ausmacht. Die kleinen Organismen werden von den größeren gefressen, diese von den noch größeren. So könnte es immer weitergehen, ad infinitum, wenn nicht - und das ist das Besondere im geschlossenen Zeichensystem dieses Werks - gerade die rechten Winkel des menschengemachten Fischernetzes die Linearität zerstörten. Das sich zusammenziehende Netz, ein Symbol trickreicher Rationalität und téchne (ein griechisches Wort, das sowohl Kunst als auch Wissenschaft meint), fängt das bis dahin letzte Glied der Nahrungskette, einen Fisch, und quetscht ihn durch die engen Maschen hindurch, verwandelt ihn so wieder in die Summe jener kleinsten Organismen zurück, die den Startpunkt des Zyklus bildeten. Die Gegensätze sind aufgehoben, ausgerechnet der bislang als Fremdkörper im Reich des Organischen aufgefaßte rechte Winkel ist es, der die Linearität zurückkrümmt in die Kreisläufe des Lebendigen.

Ganz ähnlich erging es Silvia Mohr und Anne Rinn bei ihrer Zusammenarbeit während des "Phasen"-Projektes. Wissenschaftlicher und künstlerischer Geist eroberten sich gemeinsam ein kleines Stück des Territoriums zurück, das vor langer Zeit einmal vom Renaissance-Menschen bewohnt wurde.