 | St. Gallener Tagblatt 01. März 2003 |
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EINE IRDISCHE AUF DEM ZEICHENSTERN
Anne Rinn zeigt das Ergebnis ihres Konstanzer Stipendienaufenthalts
Erschienen: 01. März 2003 Medium: St. Gallener Tagblatt Autor: Martin Preisser
Konstanz. Drei Monate lebte sie fast wie Rapunzel im Turm, in kargen, weissen vier Stockwerken. Ihre doppelte Befragung gängiger Wahrheiten gebar ganz eigenwillige Zeichenkunst.
Martin Preisser
Mit "Die Sicht der Anderen" ist die Ausstellung betitelt: "Der" Anderen, im Plural "die" Ausserirdischen, die auf Anne Rinns (noch) diesseitigen Botschaften in Tusche antworten, "der" Anderen im Singular, "die" Künstlerin selbst. Eine «Andere» ist die Berliner Künstlerin wahrhaftig, mit ganz ungewohnten Zeichenwelten, mit überraschenden Mitteilungen, mit Manifestationen einer ganz und gar skurrilen Weltanschauung. Den Botschaften mit genau zensierter, amerikanischer Sicht unseres Planeten, die 1977 mit Voyager I und II ins All gingen, und deren Expedition 2020 beendet sein wird, misstraut Anne Rinn auf recht hintergründige, ironische und subversive Art. Ist es wirklich das, was wir an Weltverständnis verinnerlichen, aber auch «den Anderen» als «Wahrheiten» verkaufen wollen? Anne Rinn hat die Fotos, die Carl Sagan unter strenger Zensur der Nasa damals auch in Buchform («Signale der Erde») zusammengestellt hat, sozusagen als Diskussionsgrundlage im ersten Stockwerk präsentiert.
Dichte Zeichenlandschaften
Die nächsten beiden Stockwerke hat die Künstlerin jeweils mit Gegenpositionen behängt, in einfachen, ungerahmten und damit auch Vorläufigkeit ausdrückenden Zeichenfolgen, die man (oft fast filmisch gereiht) exemplarisch, in Reihe, im Detail oder als Ablauf studieren kann. Es sind assoziativ sehr dichte Zeichenlandschaften, mit denen Anne Rinn Gegenwelten entwirft, für sich und für «die Anderen» nach plausibleren, das heisst aber oft auch komplexeren Zusammenhängen sucht. Antworten auf die Nasa-Botschaften und - nochmals gebrochen - Antworten auf diese Antworten. Mit jedem Stockwerk werden die Wahrheiten «immaterieller». Zeigen die «irdischen» Antworten noch witzige Gegenmythen, ja kleine konkrete Geschichten, sehr fein in comic- und zeichentrickhafter Manier aufs Papier gesetzt, sind die «ausserirdischen Antworten», obgleich auch aufgelockert gestaltet, anspruchsvolles «Futter» für Augen und Hirn! Zeichnungen gegen Desinformation bis hin zu gezeichneten philosophischen, sozialen, begriffs- oder wissenschaftsgeschichtlichen Phänomenen: Anne Rinn bietet eine breite Palette zeichnerischer Einfälle, die auf überzeugend eigenständige, obgleich den Zeitgeist gar nicht verleugnende Art einen spannenden Beitrag zur eher selten gewordenen Tuschemalerei darstellen.
Reiche Reibungsflächen
Von humorvollen Skizzen bis hin zu fast computergesteuert erscheinenden Piktogrammen: Anne Rinn bietet reiche Reibungsflächen, und besonders gelungen scheint auch die Auswahl der unterlegten Texte, die teils von der Künstlerin selbst stammen, aber auch vor Hegel- und Schopenhauer-Zitaten und wissenschaftlicher Prosa nicht zurückschrecken. Bei all der skurrilen Ausstrahlung, bei all der bizarren Linien- und Strichfantasie von Anne Rinn scheint neben dem fast Spitzbübischen auch sehr viel intime und unspektakuläre Absicht durch, mit der Anne Rinn von ihrem «Zeichenstern» aus ein künstlerisch spannendes Weltbild entwirft. Ein Weltbild, das in der Kunstwelt durchaus ungewohnt und überraschend daherkommt, das der Betrachter bei all seiner Komplexität durchaus auch lustvoll aufnehmen und weiterdenken kann. Drei Monate lebte Anne Rinn als «Artist in residence» im Turm des Kulturzentrums, nutzte die Zeit am See als Raumforscherin mit dem Zeichenstift, hat aber nach eigenen Aussagen nach Wochen des Rapunzeldaseins Sehnsucht nach Berliner Luft!
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