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Erschienen: 1997 Medium: Galerie Acud, Berlin Autor: Galerie Acud, Berlin
Anne Rinn thematisiert in ihrer Ausstellung "Objekte und Film" die Komplexität von Bewegung und spricht damit gleichzeitig die menschliche Wahrnehmung von Objekten an. Die Ausstellung besteht insgesamt aus drei Segmenten - der Aneinanderreihung torsohafter Gipsabgüsse von Knien, dem Film "Gegenläufe" und einer Rauminstallation aus mit Harz und Tusche bearbeiteten Pergamentrollen, die im Raum aufgehängt sind.
Wie Momentaufnahmen für einen Film hält Anne Rinn einzelne Bewegungsstadien des Kniesehnenreflexes mit den Gipsabgüssen ihrer Knie fest: Die wellenartige Auf- und Abbewegung der Gipsfragmente ergibt sich aus dem zerlegten Bewegungsablauf des Reflexes.
So entsteht der Eindruck von "plastischen Momentaufnahmen" dieser bewußt nicht steuerbaren Bewegung, die vom menschlichen Auge in Echtzeit nicht nachvollzogen werden kann. Die Bewegungsanalyse der Kniefragmente erinnert an die Experimente von Eadweard Muybridge mit seinen photographischen Bewegungsaufnahmen wie z.B. "The Horse in Motion" von 1878. Mybridge legte damit den Grundstein für die Kinematographie. Während jedoch bei der Aufeinanderfolge von Momentaufnahmen mit phototechnischen Mitteln der Blick des Betrachters starr auf einen Punkt gerichtet ist, tastet er bei Anne Rinns Knie-Torsi jedes der Objekte nacheinander ab. Durch das skulpturale Moment der Knie wird die Bewegung nicht wie beim Film mechanisch erzeugt, sondern beruht auf der natürlichen Bewegung des Blickes. Mentale Bilder im Kopf ergänzen die Fragmente zu einem virtuellen Ganzen. Die unterschiedlichen Drehpositionen der einzelnen Kniefragmente erzeugen durch die Aneinanderreihung den Effekt einer vielansichtigen Bewegung im Raum. in ihrer Anordnung durchlaufen und teilen sie den Ausstellungsraum. Damit bezieht sich Anne Rinn auf die erste der drei Thesen zur Bewegung von Bergson, die besagt, der durchlaufene Raum sei teilbar, "sogar unendlich teilbar, wohingegen die Bewegung unteilbar ist oder sich nicht teilen läßt."
Dem kontinuierlichen Fließen einer natürlichen Bewegung steht die Montage von künstlich erzeugten Bewegungsbildern gegenüber, was die Künstlerin am Beispiel ihres Films "Gegenläufe" zeigt. Er ist das Gegenteil der plastisch zerlegten Reflexbewegung des Knies - nämlich Simulation von Bewegung. Er zeigt einen sich unendlich ergießenden Strom von Fahrzeugen, die sich in einer Endlosschleife über die Projektionsfläche schieben. Die graphische Vorlage einer Zeichnung wird mit Hilfe einer Kamera zur Bewegungsillusion. Diese Simulation von Bewegung wird durch die Projektion einer Folge von Einzelbildern bzw. Objekten, den einzelnen Autos, die künstlich in Bewegung gesetzt wurden, erzeugt. Jedoch anders als bei den zerlegten Bewegungsabläufen des Kniesehnenreflexes wird bei der Filmprojektion der Blick des Betrachters hier fixiert. Der Effekt, daß einige der Autos rückwärts zu fahren scheinen, ist unter anderem eine Folge dieser starren, unnatürlichen Wahrnehmungsweise des Betrachters. Besonders aus älteren Filmen ist dieses Phänomen her bekannt, wenn sich Wagenräder, trotz nach vorne gerichteter Fahrt, rückwärts zu bewegen scheinen.
Mit diesem Unterschied der Wahrnehmung während der De- und Rekomposition von Bewegungsbildern, den die Künstlerin mit ihren aufgereihten Objekten und dem Filmmaterial herausarbeitet, knüpft sie an Paul Virilio und der Unterteilung in einen subjektiven und einen objektiven, alles erhellenden Blick des Menschen an. Anne Rinn macht in ihrer Ausstellung diesen Unterschied spürbar. Auch wenn die moderne Technik die Wahrnehmungswelt des Menschen zu erweitern und zu objektivieren scheint, was Muybridge oder Marey anspornte, ihre aufwendigen Experimente durchzuführen, so entfremdet sie die Realität, die sich dem Menschen heute dank der hochentwickelten Technik immer lückenloser erschließt, paradoxerweise dadurch wieder.
Die dritte Arbeit der Ausstellung, die "Fänger", schließen an die fortlaufenden Knie und den Film in Endlosschleife an. Sie sind Bewegung und Stillstand zugleich. Die langen Bänder hängen leicht gedreht von der Decke und sind übersät mit Insekten, die sich in ihrer Vielzahl und Form zum Ornament auflösen. Sie bieten ein Spielfeld für Sinne und Phantasie. Der Blick wandert entlang der "Fänger" auf und ab, verliert sich in der Fülle der Ornamente, bleibt haften, wird selbst zum Insekt, löst sich wieder auf in den amorphen Formen und ergießt die bernsteinfarbenen Nuancen des Lichts, das durch die transparenten Bänder hindurchscheint. Ähnlich wie bei der Betrachtung der gebeugten Knie wird hier ein aktives Sehen eingefordert, ohne das sich die Objekte dem Rezipienten in ihrem Wesen nicht erschließen. Paradoxerweise sind die "Fänger" mit den an ihnen festklebenden Insekten ein lebendiges Pendant zum Film mit seiner Flut scheinbar fahrender Auutomobile.
Die Ausstellung "Objekte und Film" von Anne Rinn bietet Möglichkeit eines Seherlebnisses.
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